20
Sofi wühlte in ihrer Tasche nach dem Notizblock, dem kleinen Fotoapparat und dem Rekorder. Sie nahm auch die Akte heraus, um noch einmal die Protokolle vom gestrigen Abend zu überfliegen. Wer wusste schon, wann es endlich losging.
In den folgenden Minuten füllte sich der Saal mit einem Dutzend Kittelträgern, ganz allmählich, als kehrte jeder von einer anderen Aufgabe zurück. Hinter Sofis Rücken schloss jemand die Tür. Ein sehr hagerer Mann schlurfte an den Sitzenden vorbei und steuerte auf den Platz neben Jonsson zu. Erst jetzt fiel Sofi auf, dass sie bisher gar nicht versucht hatte, sich Kujper vorzustellen. Dennoch war sie überrascht. Sein Alter konnte sie wegen seiner Statur kaum schätzen. Als Professor musste er mindestens vierzig sein, äußerlich war er allerdings ein Junge aus Flandern geblieben. Sein Kehlkopf und seine Hakennase ragten weit hervor. Über seinem Hemd trug er einen leichten Häkelpullover, der seinen Körper nur an den Schultern zu berühren schien und über den Hintern reichte. Er setzte sich wortlos und frei von jeder Wichtigtuerei, bekam weitere Dokumente gereicht und sortierte alles in Ruhe. Sofi starrte auf den goldenen Ehering, der an seinen feinen Fingern klobig aussah.
Während Jonsson Kujpers Computer an den Projektor anschloss, blätterte der in einer gebundenen Mappe, bevor er plötzlich innehielt, sich zurücklehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. Er fuhr sich mit den Fingerspitzen über den Rücken seiner Hakennase und blinzelte.
Er blickte in die Runde. „Nicht alle hier sind vom Fach, ja?“
Sofi hob die Hand.
„Das macht gar nichts! Ich werde es so erklären, dass du es verstanden hast, bevor ich es selbst verstehe.“
Kujper sprach mit niederländischem Akzent, modellierte die schwedische Sprachmelodie jedoch mit auffälliger Begeisterung. Er warf einen Blick über seine Schulter und vergewisserte sich, dass Computer und Projektor bereitstanden. Sofi liebte es mitanzusehen, wie andere Menschen ihre Dateien organisierten. So konnte man mit einem Blick am meisten über andere erfahren. Kjell zum Beispiel arbeitete mit Verknüpfungen, seitdem Sofi ihm erklärt hatte, was eine Verknüpfung ist. Leider verschob er Dateien oft und gern, deshalb funktionierten die meisten Verknüpfungen in seinem Leben nicht. Henning bewahrte alles in einem einzigen Ordner auf, weil er gerne langen Listen beim Vorbeirauschen zusah.
Der Projektor warf eine lange Zeile von Buchstaben an die Wand. Auf den ersten Blick ähnelte sie dem Text des Kryptos, der Sofi die letzte Nacht auf den Beinen gehalten hatte. Allerdings bestand diese Reihe nur aus dem Buchstaben A, T, G und C. Über und unter der Buchstabenkolonne türmten sich Zahlen, deren Bedeutung Sofi nicht verstand. Sie schaltete den Rekorder ein.
„Die Mitochondrien sind kleine Kraftwerke in unseren Zellen“, fuhr Kujper fort. „Sie besitzen ein eigenes Genom, das im Gegensatz zur normalen DNA im Zellkern keine Kombination aus der DNA von Mutter und Vater ist, sondern fast immer von der Mutter stammt. Diese Mitochondrien-DNA des Kindes ist also im Grunde identisch mit dem seiner Mutter. Sie kann sich nicht durch Rekombination, sondern nur durch Mutation verändern. Deshalb können wir sie benutzen, um Anhaltspunkte über die Abstammung eines Menschen zu bekommen.“
Beim Wort ‚wir‘ schloss Kujper Sofi ausdrücklich mit ein. Sie nickte erleichtert. Obwohl sie das meiste davon bereits aus der Schulzeit kannte, vermittelte Kujper ihr die Zuversicht, auch das Ende verstehen zu können.
„Vor einigen Jahren hat ein italienisches Forscherteam Proben von achtzig etruskischen Mumien aus dem ersten Jahrtausend vor Christus entnommen. Man ist sehr sorgfältig vorgegangen und hat alle Proben ausgeschieden, bei denen auch nur der geringste Verdacht auf Verunreinigung oder Beschädigung bestand. Am Ende blieben 27 Proben, die man ausgewertet hat. Das Projekt wollte alte ungelöste Fragen klären. Woher stammen die Etrusker und waren sie wirklich ein Volk mit gemeinsamem genetischem Ursprung oder nur eine Gemeinschaft von Aussiedlern unterschiedlicher Herkunft? Zuletzt wollte man herausfinden, was aus den Etruskern geworden ist, denn seit dem ersten Jahrhundert nach Christus hört man auf einmal nichts mehr von ihnen. Davor hatten sie lange Italien beherrscht, aber seit diesem Zeitpunkt schienen sie wie vom Erdboden verschwunden. Wer sind ihre genetischen Nachfahren? Diese Frage interessiert uns hier vor allem.“
Sofi notierte die drei Fragen. „Entschuldigung, habe ich das richtig verstanden? Die dritte Frage ist für uns wichtig?“
Kujper nickte. „Die Untersuchung zeigte, dass die Etrusker ein genetisch zusammengehöriges Volk waren. Es gibt in der Mitochondrien-DNA einige Gemeinsamkeiten mit der Westküste der Türkei, deshalb war es auch kein Wunder, dass eure Datenbankabfragen fälschlich in diese Richtung ausschlugen.“
Jonsson nickte. „Es ließ sich ja schnell ausschließen, dass sie Türkin ist.“
Kujper blickte Sofi in die Augen, als spräche er von nun an nur zu ihr. „Frage drei ist deshalb wichtig, weil die Untersuchung diese Frage nicht beantworten konnte. Es hat in der Antike etwa zweihunderttausend Etrusker gegeben, also hunderttausend Frauen, deren Mitochondriengenom sich bis heute weitervererbt haben müsste. Aber genau das ist nicht der Fall. Kein einziger, heute lebender Mensch in der Toskana oder sonstwo auf der Welt stammt von diesen Frauen ab. Wir hätten mindestens vereinzelt solche Abkömmlinge finden müssen. Die Frage bleibt also: Was ist mit den Etruskern passiert?“
Sofi zeichnete mit dem Kugelschreiber neben Frage drei eine fliegende Untertasse, die vom Erdboden abhebt.
„Darauf ist natürlich ein Streit in der Genetik entbrannt, ob Genmaterial von solch hohem Alter überhaupt zu verwertbaren Ergebnissen führen kann.“
Kujper verstummte, ohne das Sofi einen Grund ausmachen konnte.
„Und konnte diese Frage gelöst werden?“, fragte sie, um zu signalisieren, dass sie noch folgen konnte.
Alle im Raum drehten ihre Köpfe zu Kujper. Der grinste.
„Bisher litt die Forschung an dem Problem, dass man bei solch historischen Untersuchungen oft nur in eine Richtung forschen kann, weil man nicht weiß, welcher heute lebende Mensch ein sicherer Nachfahre ist. In diesem Fall scheint das Problem gelöst zu sein. Ich will dich nicht länger auf die Folter spannen.“ Kujper öffnete eine neue Datei, die wie die erste eine Gensequenz zeigte. Er musste die Fenster ein wenig verschieben, bis die beiden Zeichenreihen genau untereinander standen. „Das hier ist unsere Probe und diese stammt von einer Mumie aus der etruskischen Stadt Tarquinia. Sie hat im fünften Jahrhundert vor Christus gelebt.“
Äußerlich kehrte Stille ein, aber alle im Raum reckten ihre Köpfe und blickten auf die Projektion. Nach einer Weile schüttelten einige den Kopf.
„Willst du etwa behaupten …?“, fragte einer.
„Ich will gar nichts behaupten, sondern euch nur diese beiden Sequenzen zeigen.“ Wieder wandte sich Kujper nur an Sofi. „Es ist nur ein Ausschnitt, eine besondere Region innerhalb des gesamten Genoms, die sich für solche Zwecke wegen ihrer häufigen Mutationen besonders eignet.“
„Die sind sehr gleich“, ächzte Hans neben Sofi. Bisher hatte er geschwiegen. „Wie erklärst du dir das?“
„Wir können festhalten, dass beide Proben an den entsprechenden Stellen – hier 16126, 16193, 16228, 16229 und 16278 – gleich aussehen bis auf zwei Transitionen, die nach zweieinhalb Jahrtausenden auf jeden Fall zu erwarten sind.“
„Entschuldigung“, rief Sofi. „Die beiden sind also gleich?“
Kujper nickte grinsend.
„Verwandt? Die Frau stammt von der Mumie ab. Verstehe ich das richtig?“
„Nicht direkt. Sie haben gemeinsame Vorfahren, stammen aus dem gleichen Genpool. Die Tote aus Stockholm hat eine Urahnin, die diese Mumie vielleicht mit Namen gekannt hat.“
„Die Frau stammt also aus Tarquinia? Gibt es diese Stadt noch?“
Kujper warf einen Blick zu der Frau im Kittel, die rechts von ihm saß.
Sie nickte und wandte sich an Sofi. „Nach der Isotopenuntersuchung stammt die Frau aus dieser Gegend, hat dort aber nicht ihr Leben verbracht. Tarquinia liegt nördlich von Rom. Das gibt es heute noch. In der Hochphase der Etrusker war es eine der mächtigsten Städte Italiens, heute ist es jedoch eine unbedeutende Kleinstadt.“
Einer der Männer meldete sich zu Wort. „Ist diese Gegend denn genetisch kartografiert?“
„Ja“, sagte Kujper. „In den letzten Jahren hat man in ganz Nord- und Mittelitalien so viele Stichproben gemacht, dass man über ein lückenloses Mapping verfügt. Auf so etwas ist man jedoch nie gestoßen.“
„Aber das lässt sich ja dann nur mit Endogamie erklären“, setzte der Mann nach. „Ein kleiner geschlossener Genpool aus Menschen, die sich nur untereinander fortpflanzen.“
„Selbst wenn Leute von außen dazukommen, ist die Gendrift wohl stärker unter diesen Bedingungen. Aber wir müssen wohl von einer Art Enklave ausgehen.“ Kujper nahm wieder Blickkontakt mit Sofi auf. „Verstehst du?“
Sofi nickte schnell, drückte ihren Stuhl zurück und stand auf. „Entschuldigung, aber ich muss telefonieren.“
Nur mit ihrem Telefon in der Hand eilte sie zur Tür hinaus.
„Hier ist Sofi“, sagte sie, nachdem Henning im Büro abgehoben hatte. „Die Frau stammt aus der Gegend von Tarquinia in der Nähe von Rom.“
Henning seufzte laut. „Na endlich! Wieso haben sie dafür so lange gebraucht?“
„Sie mussten einen Umweg machen. Das erkläre ich euch später. Gibt es Neues vom Krypto?“
„Kjell ist soeben aus der Kryptographie zurückgekommen. Es ist eine natürliche Sprache, aber sie haben keine Idee, was für eine Sprache das sein könnte.“
„Versucht es mit Etruskisch.“